Ein russisch-belarussisches Militärmanöver, das den Einsatz neuer Mittelstreckenraketen testet, Luftraumverletzungen über NATO-Gebiet durch Russland, Drohnenvorfälle in Polen und Rumänien: Der Herbstanfang steht im Zeichen einer deutlichen Verschärfung der Sicherheitslage auf dem europäischen Kontinent. Die Einladung von Botschafter Dr. Robert Klinke, Inhaber des Lehrstuhls für Diplomatie II, an den Leiter des Wiener Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung für internationale Zusammenarbeit Christos Katsioulis, im Rahmen der öffentlichen Gesprächsreihe „Querschnittsfragen der Außenpolitik“ vorzutragen, erhielt damit zusätzliche Aktualität: Am 16. September stellte der deutsche Historiker und Politologe an der AUB den jüngsten Security Radar 2025 vor.
Es handelt sich um repräsentative Erhebungen von September 2024 in insgesamt 14 Staaten – einschließlich EU- und Nicht-EU-Staaten, USA und, besonders spannend, Ukraine und Russland. Im Fokus stehen Einstellungen der Bevölkerung zu Verteidigungspolitik, Sicherheit, Sanktionen, außenpolitischen Prioritäten und der Frage, wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine das Sicherheitsempfinden der Befragten verändert hat. Die eingehende Studie sorgte bereits bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2025 für Aufsehen.
Seine Karriere bei der SPD-nahen Stiftung begann Katsioulis 2005 in der belgischen Hauptstadt. In den Folgejahren baute er ein Regionalbüro in Athen auf und übernahm anschließend die Leitung der Büros der Stiftung in Brüssel und London.
Das Vereinigte Königreich war auch eines der 14 Länder, in denen die FES insgesamt über 27.500 Befragungen mithilfe von Online- und Telefoninterviews durchführte. Bei der Auswahl der Länder bilden Katsioulis und sein Team ein repräsentatives Meinungsspektrum: zentraleuropäische Perspektiven mit Interviews in Polen, die Blickwinkel eines EU-Beitrittskandidaten des westlichen Balkans durch Serbien und zentralasiatische Perzeptionen durch den Einbezug Kasachstans sind in ihren Standpunkten genauso vertreten wie Deutschland, die Ukraine und die USA. Besondere Herausforderungen stellten Befragungen in Russland dar, und das nicht nur, weil die FES dort seit 2024 als „unerwünschte Organisation“ gilt. Einerseits war es notwendig, wegen des russischen Verbots in den Fragebögen den Euphemismus „Spezialoperation“ für den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verwenden; andererseits war der eigentliche Gehalt mancher allzu regimetreu daherkommenden Antworten, soweit sie aus Angst vor Strafverfolgung von Seiten Moskaus getroffen wurden, ebenso einfließen zu lassen.
Die Analyse der gewonnenen Daten bringt interessante Erkenntnisse: 62% der befragten Russ:innen vertreten die Ansicht, der Ukrainekrieg habe die Position ihres Landes auf dem internationalen Parkett gestärkt – durchaus auch ein Ergebnis intensiver russischer Propaganda im eigene Lande. Länderübergreifend stimmen indes zwei von drei Befragten zu, dass mit dem 24. Februar 2022 ein neues Zeitalter der militärischen Auseinandersetzungen Einzug gehalten hat – auch wenn deren Stoßrichtung unterschiedlich betrachtet wird: Während Befragte in EU-Mitgliedsstaaten in Russland die größte Bedrohung sehen, empfinden Russ:innen die US-Politik als zentrale Herausforderung. Die US-Amerikaner wiederum nehmen China als politisch größten Rivalen wahr – deckungsgleich mit der Meinung jedes und jeder zweiten Befragten, der/die einen neuen kalten Krieg zwischen den beiden Ländern heraufziehen sieht.
Gestützt auf die Ergebnisse des „Security Radar“ empfiehlt Katsioulis mit Blick auf die europäische Sicherheitspolitik und künftige Beziehungen zwischen der EU und Russland, dass sich politische Entscheidungsträger:innen für eine diplomatische Verhandlungslösung zur Beendigung des Krieges in der Ukraine einsetzen sollten. Diese Position befürworteten länderübergreifend deutlich mehr Interviewpartner:innen als eine starke militärische Unterstützung. Sicherheit und die verteidigten Werte sollten einer gemeinschaftlichen Anstrengung der EU unterliegen; die Übereinstimmung der öffentlichen Meinungen sei dafür breit genug. Durch Einigkeit könne die EU weit mehr erreichen als mit nationalen Alleingängen. Der kollektive Zusammenhalt sei Grundvoraussetzung dafür, dass die EU die von ihr immer wieder geforderte geopolitischen Rolle auch einlösen könne. Um in diesem anspruchsvollen multilateralen Kontext erfolgreich zu sein, komme es darauf an, die Demokratie in den Mitgliedsstaaten zu fördern und an einer gemeinsamen Vision festzuhalten. Von Belang seien dabei nicht nur Beschlüsse auf der großen Bühne der Vereinten Nationen in New York oder an langen Tischen in Moskau. Mindestens genauso bedeutsam sei der Einsatz jedes und jeder Einzelnen von uns. So seien wir in der Lage, auch mit den aktuellen Herausforderungen an unsere Sicherheit erfolgreich umzugehen.
Joel KELLER
